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Aufruf zur Ungeduld

Als es mich in diesem Jahr als Begleitperson auf die re:publica verschlug (unsere Gedanken und Gefühle zu bestimmten Aspekten dieser Veranstaltung haben wir bereits andernorts in einem Artikel kundgetan), drückte man mir im Vorbeigehen die aktuelle Ausgabe der brand eins in die Hand, von der man eigens eine ganze Palette zum Verteilen herangeschafft hatte. Bei der brand eins handelt es sich anscheinend um ein Wirtschaftsmagazin mit Hamburg als Redaktionsort und einer Auflage von gut 72.000 Stück. Seine Homepage weist sich als „Partner von Zeit Online“ aus, das Magazin wurde nach eigener Auskunft Ende der Neunziger Jahre vor dem Hintergrund des Wandels zur „Wissensgesellschaft“, wie er auch von Soziolog_innen festgestellt wird, gegründet. Davon und von seiner frischen Aufmachung abgesehen ist es ein Wirtschaftsmagazin wie jedes andere und erinnert verdächtig an die Hochglanzmagazine mit dem duty-free-Sortiment, die auf Mittel- und Langstreckenflügen an den Sitzplätzen bereit liegen. Der ganze Spaß kostet normalerweise zehn Euro. Einem geschenkten Gaul…

Das ansonsten wenig aufschlussreiche Cover des Magazins verkündet nur einen einzigen Inhalt: Geduld, trendig als Hashtag mit einer Raute davor und dem Aufruf „Stop it“. Nach einem Editorial der Chefredakteurin Gabriele Fischer, das interessanterweise ausgerechnet Armen Avanessian herbeizitiert, sowie einigen mehr, anderen weniger zu erwartenden Themen unter dem Leitsatz „Was Wirtschaft treibt“ folgt der „Schwerpunkt Geduld“, beginnend mit einem Leitartikel eines Wolf Lotter und der Vorstellung verschiedener Unternehmen, die sich nach Ansicht der Redaktion durch besondere Geduld am Markt hervorgetan haben, darunter eine für mich als studierten Philosophen nicht uninteressante Vorstellung des bis Mitte des letzten Jahrhunderts in Leipzig, seither in Hamburg ansässigen Meiner Verlags, eines der einschlägigsten Philosophie-Fachverlage im deutschsprachigen Raum.

Wer ist dieser Wolf Lotter? Zunächst einmal ist er Mitbegründer des „Magazins für Vorausdenker“, wie brand eins sich selber nennt, und schreibt, wie es aussieht, monatlich Essays zu den dort behandelten Schwerpunktthemen. Der Werdegang des gebürtigen Österreichers verlief, grob beschrieben, vom gelernten Buchhändler über das kulturelle Management hin zum Wirtschaftsjournalismus. Seine Artikel und Bücher befassen sich mit dem Wandel der Wirtschaft im 21. Jahrhundert und sind praktisch ausnahmslos Appelle an Produzen_innen wie Konsument_innen, „Deutschland“ (die angesprochenen Akteure bleiben im Einzelnen meist unspezifiziert) müsse doch diesdasjenes lernen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Ein roter Faden ist davon abgesehen nur zu erahnen. Sein jüngstes Buch trägt den wenig innovativen Titel „Innovation“ und den Untertitel „Streitschrift für ein barrierefreies Denken“. Aus Mitteln der Körber-Stiftung (die in einem interessanten bilateralen Verhältnis zur Körber AG mit ihrem Jahresumsatz von über zwei Milliarden Euro steht) finanziert, möchte es auf Umstände kultureller Art aufmerksam machen, die Lotter zufolge dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft in Deutschland im Wege stehen. In seiner Freizeit schreibt der Autor offenbar gerne ungefragte, gut gemeinte Ratschläge an andere „Anders-“ oder „Querdenker“, Frotzeleien und mehr oder minder scharfsinnige Betrachtungen über den Kapitalismus ins Internet, auf seiner Homepage sieht man ihn in Denkerpose, Daumen und Zeigefinger an das bärtige Kinn gelegt, verschmitzt über den Brillenrand in die Ferne schauend.


Dies lediglich zur ideellen wie ästhetischen Einordnung. Kommen wir zum Artikel. Zunächst einmal: der Stil ist gut. Er ist sogar so gut, dass man mit innerer Anspannung und Begeisterung weiterliest, nur um festzustellen, dass er inhaltlich völlig ins Leere läuft. Es gibt keine Richtung, nur freie Assoziation, die mal in diese, mal in jene Richtung führt, um etwas anschaulich zu machen, das sich entzieht. Am Ende bleibt das Resumee, Geduld sei nicht überholt, sondern wichtig. Quelle surprise! Wichtig wofür eigentlich?

Der Text beginnt mit einer kurzen Assoziationsabfrage zum Thema „das System“. Keine schlechte Idee, immerhin ist diese Worthülse tagtäglich Hauptgegenstand und -inhalt unbrauchbarer linker wie rechter Kritiken an, nun ja „dem System“ halt. Aber natürlich geht es um Wirtschaft. Okay, ganz häufig geht es auch um Antisemitismus. Das weiß Wolf Lotter, er kritisiert es manchmal auf Twitter. Danke, Herr Lotter. Was hier nun zunächst heranzitiert wird, ist Charles Chaplins Film Modern Times. Soso, eine Kritik der Ausbeutung des Arbeiters_der Arbeiterin im industriellen, fordistischen Kapitalismus? Nicht schlecht. Aber nein, darum geht es nicht, das macht der Autor deutlich, es geht nämlich eigentlich um Aktionismus. Die Industrie, die Fleißwirtschaft (durchaus eine brauchbare Übersetzung des Fremdwortes) beruhe „auf Tempo und Masse“. Daraus resultiere Ungeduld. Ist diese Produktionsweise an der Ungeduld unserer Zeit schuld? Dafür gibt es stichhaltige historische Indizien. Lassen wir das so stehen.

Gleichzeitig ist Ungeduld dann aber im nächsten Absatz keine Erfindung des Kapitalismus. Nein, das Übel wird benannt, es heißt Aktionismus und besteht im Machen von Versprechungen (man stellt sich die Frage, ob das nicht das Gegenteil von Aktionismus sei). Es wird das schlechte Bild beklagt, das „die Gesellschaft“ (lies: die Wirtschaft) von geduldigen Menschen habe. Und dann wird das gegenteilige Ideal beschworen: das Dranbleiben. Nanu, denkt man sich, das klingt entfernt nach Wirtschaftswunder-in-die-Hände-spucken-Rhetorik. Doch den Verweis auf diese Körperflüssigkeit, der ja, wie nun schon klar ist, keinesfalls ausbleiben darf, spart der Verfasser sich tatsächlich auf bis zum fünften der acht Abschnitte, in die der Text unterteilt ist (wir befinden uns übrigens gerade im zweiten).

„Mag ja sein, dass in der Kürze auch mal die Würze liegt, aber meist schmeckt die nach Glutamat“. Ein herrlicher Satz, ich würde ihn mir an die Wand schreiben, doch dann macht der Text wieder einen 90-Grad-Schlenker und verweist auf die im Rundfunk gespielten Radio Edits von Musikstücken, wir sind im Jahre 1970 und bei John Lennon, bei Instant Karma, wobei das buddhistische Motiv so derartig falsch übersetzt wird, dass ich meinen Leser_innen den Schmerz der Lektüre ersparen möchte. Das Resumee: „Das ist keine Konsumkritik, sondern eine an den Konsumenten“. Nun geht es zunächst einmal darum zu zeigen, dass der Konsument_die Konsumentin selbst schuld daran sei, etwa in der Technikbranche unbrauchbare Ware vorgesetzt zu bekommen: Schuld sei die Ungeduld, die ewige Gier nach Neuem. Durchaus nicht unbegründet, es ist immerhin jammerschade, dass ein Großteil heutiger Kapitalismuskritik sich ausschließlich an der Erzeugerebene abarbeitet, von der in dieser Hinsicht nicht allzu viel zu erwarten ist, und die Verbraucherebene gänzlich außer Acht lässt. Wohin der Autor will, ist jedoch wieder einmal nicht ersichtlich.

So schlängelt der Text sich fort, assoziativ Themengebiete touchierend: da geht es um Prokrastination als Nebenschauplatz des kritisierten „Aktionismus“, um Evolution, um Anspruchsdenken, um Beruf und Projekt, dann landet Lotter bei Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ (übrigens einer meiner Lieblingsromane), der hier irgendwie als Managementhandbuch für die Frühzeit der Digitalisierung gelesen wird – als Handbuch für den „Wissensarbeiter“, der hier dann auch endlich seine lang erwartete Spucke haben darf. Im Anschluss mäandert der Text zur „alten Wissensgesellschaft“, zu der der Klöster, es wird eine Parallele zur religiösen Praxis der Kontemplation gezogen. Alles schön und gut. Was irritiert, ist das Ende, sind die letzten beiden Abschnitte.


Für die Argumentation herangezogen wird ein Peter Heintel, Emeritus der Universität zu Klagenfurt, Philosoph und Unternehmensberater (au weia). In seiner Ratgeberliteratur vertritt er ähnliche Positionen wie Wolf Lotter selbst. Auch er redet von der Wissensgesellschaft, von langfristigen Lösungen, vom Wagen. Bei gründlicher Lektüre weist der Text hier jedoch einen heftigen Bruch, eine Art inneren Widerspruch auf. Dieser Abschnitt war es, der mein Interesse geweckt hatte: Es geht darin nämlich zunächst um mein Lieblingsthema, nämlich um Macht.

„Wir haben kulturell immer noch den Schlag ins Gewalttätige“, wird Heintel zitiert. Als „kulturelles Vorbild“ wird Alexander der Große herangezogen, der den Gordischen Knoten nicht löst, sondern zerschlägt. Lassen wir uns nicht von Nebensächlichkeiten ablenken, beispielsweise, ob der Makedonenkönig heute wirklich noch allen als Vorbild dient (im narzisstischen Manager-Mikrokosmos gilt in dieser Hinsicht ja alles als möglich), oder ob der Knoten überhaupt… nein, wir lassen die historischen Zeugnisse beiseite. Heintel hat doch völlig recht. „Konzentration fürs Wesentliche“, das will er. Was das sein mag, bleibt ungesagt. Aber langfristig müssen die Problemlösungen der Wissensgesellschaft sein. Ob der Philosoph und der Journalist dabei auch an den Klimawandel gedacht haben? Wolf Lotter gilt ja schließlich als Kritiker des Geredes von der globalen Erwärmung und artikuliert das auch gerne.

Die Macht, so Heintel, könne keinen Widerspruch dulden. Und die Geduld ist gleichsam die Spur der Macht. Der Anführer, lies: der Chef, hat den Untergebenen (den Angestellten; das Verhältnis lässt sich allerdings auch herrlich auf die Bürokratie der Hartz-Zwangsarbeitsgesetze übertragen) herumzuschubsen, hat physisch Stärke zu zeigen, ungeduldig zu sein – wo die Angestellten mit dem Chef ungeduldig werden, droht Rebellion.

Und so, liebe Kinder, genau so geht gute Basisgewerkschaftspraxis.
Macht braucht Anerkennung. Und die kann man verweigern.

Ungeduld, so Heintel, solle die Entwicklung fördern, nicht den Bruch. Was sagt Lotter dazu? Es sei doch hilfreich, wenn die Leute sich mehr austauschten. Wie das in einer auf Konkurrenz und Wettbewerb aufgebauten Ökonomie – und damit Gesellschaft – möglich sein soll, wird nicht gesagt. Dafür müsse man „wie bei der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und unbekannten Systemen, nicht alles wissen und nicht alles aushalten und hinnehmen – aber so viel Kontextwissen sammeln, um zu verstehen, warum die sich so und nicht anders verhalten“. Noch ein absolut phantastischer Satz, ich wäre dankbar für die Formulierung gewesen, als ich noch Mentor für internationale Studierende war. Aber auch schwierig in einer Zeit, in der stramm rechte Parteien den Ausschluss von Benachteiligten zur Strategie machen wollen, die „Volksgemeinschaft“ wirtschaftlich zu stärken, und sich dafür neoliberaler Rhetoriken bedienen, woraufhin die Neoliberalen das Ding als Ganzes kaufen. Ich habe mal versuchsweise Zitate von Alice Weidel und Christian Lindner gesammelt und in eine Zufallsreihenfolge gebracht. Am Ende konnte sie niemand richtig zuordnen.

Am Ende, im letzten Abschnitt, wird der Text richtig würzig. Da wird ein Ingo Pies zitiert, anscheinend ein Wirtschaftsethiker aus Halle (Saale), der Bücher unter anderem über new governance schreibt. Ein Teil meiner Definition könnte die Leser_innen verunsichern. Der behauptet nun, den Kapitalismus gäbe es „ohne Interesse an Langfristigkeit“ gar nicht. An den Klimawandel hat da natürlich niemand gedacht, aber für Wolf Lotter ist das ja ohnehin nur Hysterie. denn „der viel gescholtene Kapitalismus [hat] mehr Verstand und mehr Geduld verdient, nicht nur von seinen Betreibern, sondern in Zeiten wie diesen ganz besonders von seinen zahlreichen Kritikern“.

Augenblick mal. Hatten wir nicht dreihundert Jahre lang Geduld? Hat der Großteil der Bevölkerung nicht, wann immer die nächste Wirtschaftskrise durchhungert war, geduldig auf Reformen gewartet? Kämpft die globale Arbeiter_innenklasse nicht seit Mitte des 19. Jahrhunderts für gerechte Löhne und Mitsprache am Arbeitsplatz? „Für einen erfolgreichen Kapitalismus ist vor allen Dingen eines wichtig: die Investition“, wird wieder dieser Ingo Pies zitiert, „und Investitionen sind klassischer unternehmerischer Langmut“. So. Moment. Augenblick. Das geht jetzt wirklich zu weit. Heintel, in den Achtziger Jahren in Österreich übrigens noch als Marxist verschrien, hatte doch so gut vorgelegt. Die Arbeiterin hat immer auszuhalten, abzuwarten, zu ertragen. Der ganze letzte Abschnitt des sonst stellenweise so gelungenen Textes ist ein Bilderbuchbeispiel für unternehmerische Verklärung und Privilegienblindheit.

Wenn der Kapitalismus von Investitionen lebt, wie steht dann die Investitionsmasse dazu? Diejenigen, die nichts zu investieren haben als ihre Arbeitskraft? Für neunzehn von zwanzig Arbeitnehmer_innen wird das „Hocharbeiten“ eine Illusion bleiben, die sie treu und Widerspruchsfrei am Schreibtisch, an der Maschine, im Labor hält, bis der Standort aufgrund einer Vorstandsentscheidung geschlossen wird, weil anderswo die Produktionskosten niedriger sind. Und dann? Geduld, wie Herr Lotter sie versteht heißt auch, ohne Erträge auszukommen. Ein Luxus, den die meisten Selbstständigen, die ich kenne, auch nicht haben. Die klassischen Arbeitnehmer_innen, ob sie im Virtuellen arbeiten oder mit den Händen am Werkstück, die Selbstständigen, Künstler_innen, Erwerbslose, die sich mit Minijobs durchschlagen (und damit übrigens die gleichen Rechte haben wie Vollbeschäftigte) – alle zusammen bilden heute das Prekariat. Und eigentlich sollten alle genug haben.


Seien wir ungeduldig! Mit Chefs, mit Regierungen, mit Herrschaftsansprüchen. Lassen wir nichts mehr durchgehen. Machen wir alles open source, lernen wir, commons zu verwalten, drehen wir der Wissensöökonomie die Luft ab. Wissen ist nämlich kein Handelsgut. Es gehört allen. Habe ich jetzt auch ein Songzitat gut, mit dem ich auf John Lennon antworten darf? Dann zitiere ich Rio Reiser:

Wir brauchen keinen starken Mann
Denn wir sind selber stark genug.
Wir wissen selber, was zu tun ist
Unser Kopf ist groß genug.

Ein paar Seiten weiter heißt es: „Es war noch nie so einfach, einen Betrieb zu gründen“. Das stimmt! Ich hätte es selbst einmal fast getan. Dann habe ich es aber sein gelassen, weil ich nicht wusste, wie es danach weitergehen sollte. Ist eben doch nicht so einfach, ohne Kapital.


Witzig: den Rücken dieser Ausgabe, die nicht müde wird, die Geduld zu loben, bildet eine DIN A4-Werbeanzeige für den Cosmograph Daytona von Rolex – mit den Worten: „Diese Uhr ist eine Zeitzeugin des der Geschichte des Motorsports“. Alte Situationistenregel: Alles bleibt so, wie es niemals war.

Bis neulich,

euer
A. E. Wolf

Der erwähnte Artikel ist hier zu finden: brand eins, 20. Jg., Heft 05 (Mai 2018)