„Eine kurdische Antwort auf den Klimawandel“

Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um eine Übersetzung des Artikels „A Kurdish Response to Climate Change“ von Anna Lau, Erdelan Baran und Melanie Sirinathsingh, der ursprünglich am 18. November 2016 auf opendemocracy und am 11. Januar auf der Homepage der Internationalistischen Kommune Rojava veröffentlicht wurde.

Besondere Aufmerksamkeit sollte dieses Thema erfahren, da die im Zuge des syrischen Bürgerkrieges enstandenen kurdischen Autonomiegebiete nach wie vor von allen Seiten unter Beschuss stehen, während der politische Arm der großen kurdischen Diaspora in Deutschland aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zur in der BRD zur Terrororganisation erklärten PKK massiv kriminalisiert wird und mit Repressionen zu kämpfen hat.

 

Begriffserklärungen:

Afrin/Efrin: Enklave im Norden Syriens, in der die kurdische Autonomiebewegung ihr Gesellschaftsmodell vorantreibt; zum jetzigen Zeitpunkt verübt die türkische Armee in Afrin einen Völkermord an der kurdischen Bevölkerung; die BRD genehmigt währenddessen weiter Waffen, darunter Leopard 2-Panzer, an die Türkei.

Black Lives Matter: Bei BLM handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Bewegung aus den Vereinigten Staaten, die sich gegen Gewalt an Schwarzen Personen, insbesondere durch die Polizei, einsetzt.

HDP: Die HDP ist eine linke demokratische Partei in der Türkei, die sich für die Rechte von ethnischen Minderheiten und Frauen einsetzt und der kurdischen Bewegung nahe steht. Die Erdoğan-Regierung bekämpft die HDP, indem sie Parlamentsmitgliedern Mandate entzieht und sie inhaftiert.

PKK: Die Arbeiterpartei Kurdistans ist eine militante politische Organisation, die für die Abspaltung der kurdisch geprägten Gebiete in der Türkei kämpft. Anschläge der PKK und ethnische Säuberungen seitens des türkischen Staates haben sich im Laufe der Zeit zu einem blutigen Konflikt hochgeschaukelt. Da die Türkei militärischer Bündnispartner der BRD ist, wird die PKK in Deutschland als „ausländerextremistische“ Terrororganisation geführt.

Rojava: westlichster (syrischer) Teil Kurdistans, in dem auf Grundlage von Abdullah Öcalans libertär-sozialistischen „Demokratischen Konföderalismus“ ein neues Gesellschaftsmodell erprobt wird.

YPG / YPJ: Die kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Syrien. Bei der YPJ handelt es sich um eine reine Frauenarmee.

 

 

Das Lower Class Magazine hat jüngst ein Interview mit aktiven Personen aus der deutschen und der kurdischen Linken in Deutschland veröffentlicht, das die Zusammenhänge ihrer jeweiligen Kämpfe genauer verortet:

http://lowerclassmag.com/2017/12/antistaatliche-raeume-muessen-ausgeweitet-werden-ueberall/

 

Der Originaltext ist hier zu finden:

https://www.opendemocracy.net/uk/anna-lau-erdelan-baran-melanie-sirinathsingh/kurdish-response-to-climate-change#_ftn1

 

 

Gespräche mit der Kurdischen Befreidungsbewegung über eine ökologische Gesellschaft und demokratischen Konföderalismus.

In den 4000 Jahren seit dem Zusammenbruch des Akkadischen Reichs in Mesopotamien wies fast jeder große Kollaps von Gesellschaften fünf Tendenzen auf: Massenmigration, Zusammenbruch von Staaten, Hungersnöte, Epidemien und Klimawandel. Worin sich die heutige Zeit von ihnen unterscheidet, ist, dass während Zusammenbrüche in der Vergangenheit geographisch beschränkt waren, die Globalisierung kohlenstoffintensiver Industrien seit den 1800er Jahren und insbesondere in den letzten vier Jahrzehnten bedeutet, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung zunehmend verschwimmt. Viele der Menschen, die heute unter menschlich verursachtem Klimawandel leiden, sind zugleich die, die am wenigsten dafür verantwortlich sind. Das Projekt Climate Stories glaubt daran, dass die Verhinderung weiterer Schäden und die Aufgabe, eine neue Welt zu bauen, von denen angeführt werden muss, die als Erste hören, wie die Erde sich im Protest erlebt, die sich mit den Gründen dafür auseinandergesetzt haben und die Lösungen entwickeln. Im Geiste dieser Idee dokumentiert dieser Artikel Reflektionen aus einer Serie von Unterhaltungen über den Klimawandel mit Mitgliedern der kurdischen Bewegung.

Auf der Suche nach den Wurzeln einer „Klimakrise“ im 21. Jahrhundert

In der Geschichte der Umweltbewegungen gibt es zwei einander gegenüberstehende Trends. Der erste ist reformistisch und bevorzugt environmental engineering [die gezielte Beeinflussung der Umwelt durch geplantes menschliches Handeln; Anm. d. Übers.]. Diese Herangehensweise betrachtet die Natur noch immer nach dem Maßstab, wie sie durch „umweltfreundliche“ Reformen und Technologien menschlichen Bedürfnissen dienen kann. Aus Sicht der kurdischen Bewegung umgeht dies die Frage, wer von Umweltschäden profitiert hat, und verzögert effiziente Lösungen. Der zweite Ansatz ist ein tiefenökologischer, der die Tendenz hat, die Technologie und den Menschen zu problematisieren. Auch er ist beschränkt, denn, ob es uns gefällt oder nicht, es sind immer noch Menschen, die im Laufe der Zeit das größte Vermögen entwickelt haben, die Natur zu formen. Diese Macht kann genutzt werden, um die Natur zu erneuern und zu schützen, oder um sie zu zerstören. Wenn also Tiefenökologen sagen, Menschen seien für alles verantwortlich, implizieren sie, dass die Bosse der Petroindustrie nicht schuldiger seien als unsere kurdischen Großmütter, die in ihren Dörfern leben und das Land pflegen.

Um sich jenseits dieser zwei Ansätze bewegen zu können, müssen wir die positive Rolle verstehen, die menschliche Technologien in der wechselseitigen Beziehung zwischen biologischer Natur und menschlicher Gesellschaft gespielt hat – und wieder spielen könnte. Müssen wir wirklich in einem Käfig in unserem Haus einen Vogel halten, um unsere Liebe für ihn auszudrücken, wenn es doch seine Natur ist, draußen zu fliegen?

Ebenso müssen wir die Wurzeln der heutigen Klimakrise verstehen lernen. Wie ist die Idee der Kontrolle über die Natur überhaupt entstanden? Können Menschen die „äußere“ Natur kontrollieren, wenn sie nicht zunächst Herrschaftsstrukturen unter sich aufbauen? Unsere Ansichten dazu beruhen auf unser 5.000-jährigen Geschichte. Der inhaftierte Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan hat darüber geschrieben, wie in den Tempelkomplexen des antiken Mesopotamiens erstmals Hierarchie institutionalisiert [soziologisch im Sinne von „verstetigt“, Amn. d. Übers.] wurde, angefangen mit dem Aufstieg des männlichen Priesters und der Institutionalisierung des Patriarchats. Es folgten der Staat, die [Schuld-]Sklaverei, das stehende Heer, Privateigentum; Merkmale vieler Gesellschaften, die wir heute kennen.

Für Öcalan verlaufen zwei Tendenzen der Zivilisation parallel. Gegen Ende der Jungsteinzeit wurden Strukturen, die auf Hierarchie, Gewalt und Unterwerfung beruhen, immer üblicher. Und dennoch stammt aus derselben Ära, um 2.300 v. Chr., auch das erste Wort um das Konzept „Freiheit“ auszudrücken – amargi, wörtlich „die Rückkehr zur Mutter“.

Dies ist die Grundlage dessen, was er als „demokratische Zivilisation“ bezeichnet, die zahlreiche historische Herausforderungen durchläuft und heute fortbesteht, besonders in indigenen Gesellschaften, die noch immer kommunale Politik praktizieren; in Rojava, unserem am besten bekannten Modell dessen, was wir als „ökologische Gesellschaft“ bezeichnen können, sprechen viele von einer „Rückkehr zu unserer Natur“. In anderen Worten, der Rückkehr zu einer Gesellschaft, die auf der Freiheit der Frazen, Ökologie und Demokratie in allen Sphären des Lebens beruht.

Frauen und Land

In der kurdischen Sprache hat das Wort Jin eine doppelte Bedeutung: es bedeutet Frau, aber es kommt auch von der Wurzel Jiyan, was Leben bedeutet. Für uns bedeutet die Unterdrückung der Frau also unausweichlich, das Leben selbst zu unterdrücken.

Dies nimmt in unserer Theorie der Befreiung einen zentralen Platz ein, und Frauenforschung, unter der Bezeichnung jineology, ist zu einem der fundamentalen Grundsätze der kurdischen Bewegung geworden. Jahrhundertelang war die Frau die Hüterin des Wissens über Nahrung, Natur, Wachstum, Medizin, Heilung. Sie war unerlässlich für das System agrikultureller Produktion, in dem Feldfrüchte zwischen Gemeinschaften gerecht geteilt wurden, und war Inhaberin wichtiger sozialer Macht [einen hervorragenden Überblick zu diesen Themen bietet Val Plumwoods Klassiker „Feminism and the Mastery of Nature“ von 1993, von dem allerdings leider noch immer keine deutsche Übersetzung vorliegt. Anm. d. Übers.].

Heute machen Frauen nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) noch immer den Großteil der Arbeitenden in der Landwirtschaft weltweit aus und bauen mehr als die Hälfte der Nahrungsmittel der Welt an. Auch in Kurdistan stehen Frauen im Zentrum der ländlichen Wirtschaft. Viele kurdische Haushalte im türkischen Hinterland werden von Frauen geführt, seit die Väter und Söhne im Krieg umgekommen oder verschwunden sind. Unsere lokalen Beispiele bringen uns zum Nachdenken über die sozialen Widersprüche, die wir beobachten: die heutige globale Agrarproduktion kann das Eineinhalbfache der Weltbevölkerung ernähren, und dennoch sind 800 Millionen Menschen chronisch unterernährt. Aus unserer Sicht ist dies ein Symptom dessen, wie die kapitalistische Moderne im Laufe der Zeit funktioniert hat, mit der Institutionalisierung sehr spezifischer politische Infrastrukturen und sozialer Prozesse. Diese haben Ressourcen zum Privileg einer Minderheit gemacht, über die sie selbst über große Distanz verfügen kann, wodurch viele andere in Armut getrieben wurden. Die Wurzeln dessen liegen in der frühesten Form von Herrschaft, der von Männern über Frauen.

Der kurdische Kontext heute

Den Widerhall der Vergangenheit zu verstehen ist notwendig, um den kurdischen Kontext zu verstehen. Kurden sind eines der ältesten Völker, die im Zweistromland leben. Wir zählen vierzig Millionen, doch hatten nie unsere Identität in Form eines Nationalstaats gebündelt. Kurden zählen auch zu den ältesten Anhängern des Zoroastrismus [im deutschsprachigen Raum hauptsächlich durch seinen Stifter Zarathustra bekannt, Anm. d. Übers.], der auf Harmonie mit der Natur basiert und sich um die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde dreht. Aus diesen Wurzeln hat die kurdische Kultur, verbunden mit dem Land, das wir bewohnen, im wahrsten Sinne eine Agri-Kultur entwickelt. Die reiche Artenvielfalt der Region ist die Wiege einer der ersten sesshaften, Ackerbau treibenden Gesellschaften der menschlichen Zivilisation. Millionen Hektar bewässertes Land im Tigris-Euphrat-Becken produzierten Gerste, Baumwolle, Vieh, Obst und Gemüse und die kurdischen Regionen Syrien und des Iraks galten seit jeher als „Kornkammer“ dieser Länder.
In diesen Gegenden befinden sich auch einige der größten Ölreserven der Region, und der Durst nach fossilen Energieträgern hat Kurdistan zu einer begehrten geostrategischen Region gemacht.Seit dem 19. Jahrhundert kreisten britische und französische Interessen um Mosul und Kirkuk, beeinflussen Abkommen zwischen internationalen Mächten, legten Kurdistans Grenzen fest und gestalteten den Zugang zu den Ressourcen der Region kompliziert. Internationale Ölunternehmen und der von ihnen angesammelte Wohlstand beherrschen die Städte des Irak in Frm von Wolkenkratzen, dem Symbol des internationalen Finanzkapitals, während die agrikulturelle Produktion abnahm, als Konflikte in der Region wüteten.

In der Türkei hat die Mechanisierung der Landwirtschaft in den 50er und 60er Jahren (teilweise finanziert durch den Marshallplan) Kurd_innen aus ihrer angestammten Heimat in die Elendsviertel der Städte im Westen der Türkei vertrieben, während eine Politik der gewaltsamen Anpassung sie von ihrem Land trennte. Um simultan die Identität jener zu untergraben, die zurückblieben, wurden historische und kulturelle Denkmäler zerstört. Im ländlichen Kurdistan wurden Atomkraftwerke gebaut und bedrohten Ackerbau, Viehzucht, Lebensgrundlagen. Als die jüngste Welle des kurdischen Widerstands in den 1980er Jahren begann, antwortete der türkische Staat mit der Zerstörung von 5.000 Dörfern und hunderten Hektar Wald. Diese Gewalt setzt sich bis heute fort. Zwischen Juli 2015 und April 2016 wurden in der gesamten südöstlichen Türkei fast 400 Zivilist_innen von türkischen Spezialkräften getötet und im Zuge von Ausgangssperren und militärischen Übergriffen 300.000 Personen vertrieben. Berichten zufolge richtete sich die Zerstörung auch hier nicht gegen die Städte, sondern auch gegen die Wälder der Umgebung. Erst jüngst, am 4. November, wurden gewählte kurdische Beamte festgenommen und in Einzelhaft gesetzt, als Teil anhaltender Razzien gegen die Bewegung.

Die Vertreibung von Kurd_innen von ihrem Land zerstörte Leben, Land und Kultur, die Basis der Identität. Unsere Erfahrungen haben uns klargemacht, wie eng Kultur, Identität, und damit auch Wohlbefinden, von der Umwelt beeinflusst werden, in dem ein Volk lebt.

Wenn Ackerbau das Fundament unserer Gesellschaft ist, dann ist Wasser ihre Mutter. Heute sind Euphrat und Tigris – Quellen des Lebens, die durch die kurdischen Gegenden in Türkei, Syrien und Irak fließen, zusätzliche geopolitische Bedeutung gewonnen, da Wasserknappheit, ebenso wie Nahrungsknappheit, zur Triebfeder regionaler Konflikte geworden sind. Flüsse kennen keine Grenzen und ignorieren die politischen Karten.

Mit Blick auf die Räson dieser Arterien der Erde sollten die Völker, Nationen und Regierungen der Erde gemeinsam für die Erhaltung und den gerechten Gebrauch des Wassers arbeiten, das der Erde gehört. Dies war jedoch bislang nicht der Fall. Entwicklungsprojekte um Wasser haben vielfach die Türkei, Syrien und den Irak an den Rand des Krieges gebracht, mit dem nicht anerkennten Volk Kurdistans, an den Flüssen lebend, in der Mitte. Heute wird das Southeastern Anatolia Project (GAP) in den kurdischen Regionen der Türkei ausgeführt, im Zuge dessen 22 Dämme gebaut werden. Der Ilisu-Damm am Tigris wird den Wasserfluss in den Irak und nach Syrien verringern und hunderte und tausende Menschen aus Orten wie Hasankeyf, einer der am längsten durchgängig besiedelten Städte der Erde, vertreiben. Während Projekte wie dieses fast immer als „Entwicklung und Fortschritt“ gerechtfertigt werden, ist das GAP-Projekt ein gezielter Versucht, die Gegend zu entvölkern, Anwohner_innen in die Städte zu zwingen, das soziale Gewebe Kurdistans zu unterminieren, und eine Art „natürliche“ Barrikade gegen die PKK-Guerillas zu errichten.

Auf dem Weg zur „ökologischen Gesellschaft“

Ebenso, wie die natürliche Umwelt menschliche Identität und Kultur formt, so formt die Menschliche Gesellschaft die Natur. Die Hingabe an Profit durch Überproduktion hat die globale Gesellschaft zur Selbstzerstörung getrieben, mit dem Ergebnis einer Welt, in der eine der profitablen Industrien die Waffenindustrie ist; in der Volkswirtschaften Monopole und die direkte oder indirekte Kolonisierung anderer Länder bestärken; in der Landwirtschaft durch ressourcenintensive Industrien, verantwortungslose Genmanipulation und Verlust an Saatenvielfalt ihren Wert verloren hat. WIr sind an einem Punkt angekommen, an dem die Menschheit handeln muss, um demokratischen Wandel in allen Aspekten unseres Lebens zu bewirken, andernfalls werden wir uns vollkommen von der Natur getrennt haben.

Für die kurdische Bewegung beginnt eine ökologische Gesellschaft mit der Zerstörung des Patriarchats. Die westliche Presse hat sich daran abgearbeitet, dass kurdische Frauen sich im bewaffneten Kampf organisiert haben, so auch zuletzt in den Selbstverteidigungskräften der YPJ in Rojava und der YJA-STAR in anderen Teilen Kurdistans. Der entmenschlichende Orientalismus dieser Geschichten verschleiert das Gesamtbild: dass die Selbstbestimmung der Frauen wesentlich ist für den Erfolg unserer Kämpfe und unserer Viseion einer befreiten, demokratischen und ökologischen Gesellschaft. Frauen betreiben nun Akademien in ganz Kurdistan, richten ausschließlich weibliche Dörfer für Opfer von Missbrauch ein, und sind die aktivsten Mitglieder zivilen und politischen Lebens, in Räten, Kommunen und als Repräsentantinnen in politischen Parteien.

Auf jeder Ebene der Gesellschaft müssen 40% aller politischen Ämter von jedem Geschlecht besetzt sein, durch ein System der Ko-Präsidentschaft, in dem nur Frauen das Recht haben, den weiblichen Vorsitz zu wählen, während alle den männlichen Vorsitz wählen. Dadurch wird die Macht geteilt, ein Mehrwert an Bildung produziert und ein gerechter Konsens in allen politischen Entscheidungen gefördert.

Eine ökologische Gesellschaft basiert auf Demokratischem Konföderalismus innerhalb demokratischer Nationen anstelle von Repräsentativdemokratie innerhalb von Nationalstaaten. Die meisten Staaten wurden durch entzweiende Projekte der nationalen „Einigung“ errichtet, die manchmal bereits existierender Spannungen bedienten, sie manchmal erst erschufen, die Familien und eingelebte Gemeinschaften auseinander trieben um ihre hochgradig militarisierten und nichtsdestoweniger künstlichen Grenzen zu ziehen, die die Menschen davon abhalten, für die heutigen Probleme kollektive Verantwortung zu übernehmen.

Dies ist ein Vermächtnis der rassistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die die Existenz „überlegener“ und „unterlegener“ Rassen zu „beweisen“ meinte, die die politische Philosophie Europas mit dem Nationalstaat zu einer einzelnen ethnischen oder kulturellen Identität verband. In heutiger Zeit hallt dies in vielerlei Hinsicht nach; dazu zählt der Glaube, es sei schwierig für Menschen verschiedener Kulturen, gemeinsam in einem Staat zu leben, was ausblendet, dass das Problem in den diskriminierenden Prinzipien moderner Staatlichkeit begründet ist.

Im Gegensatz dazu glauben wir und erleben täglich, dass je vielfältiger eine Nation ist, desto stärker seine Demokratie ausfällt. Deshalb ist die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei, die vielfältigste Partei im türkischen Parlament und repräsentiert alle Gemeinschaften Mesopotamiens und Anatoliens; Kurden, Türken, Armenier, Araber, Assyrer, Muslime, Aleviten, Christen und Jesiden. Bei den Wahlen in der Türkei 2015 erzielte die HDP einen historischen Erfolg und gewann 59 Sitze. Doch am 4. November 2016 wurden elf der Mandatsträger_innen, inklusive der beiden Vorsitzenden, vom türkischen Staat in Haft genommen.
 
Warum ist dies so bedeutsam? Wir müssen uns daran erinnern, dass wenn verschiedene ethnische und religiöse Gruppen im Nahen Osten geeint wären, es sich so viel schwieriger gestalten würde, die Region zu teilen und zu beherrschen. Wie ein arabisches Mitglied der Verwaltung von Rojava der kurdischen Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Dilar Dirik erläuterte:
‘Das System demokratischer Autonomie in unseren drei Kantonen erschüttert und empört die ganze Welt, weil das kapitalistische System trotz all seiner Heuchelei keine Freiheit und Demokratie im Nahen Osten will. Deshalb greifen sie alle Rojava an. Die verschiedenen Formen des Staats, die sich in der Syrischen Arabischen Republik unter Assad und unter dem Islamischen Staat (IS) gezeigt haben, sind zwei Seiten derselben Medaille, da sie beide das Mosaik kultureller Vielfalt in unserer Region verleugnen und zerstören. Doch mehr und mehr Araber_innen aus dem Rest von Syrien kommen nach Rojava und lernen über demokratische Autonomie, weil sie hier eine Perspektive der Freiheit erblicken.’
Die meisten Nationalstaaten zentralisieren die Entscheidungsgewalt, so dass gerade dort, wo sie am dringendsten nötig wäre, wenig politische Aktivität stattfindet. Der Demokratische Konföderalismus hingegen beruht auf direkter Demokratie. Mit der Niederlegung des „Sozialvertrags“ in Rojava kommen Menschen verschiedener Nationen und verschiedenen Glaubens zusammen um Politik durch direkte Teilhave in Kommissionen, Komitees, Räten und Kommunen von der Nachbarschaft über Regionen und Städte hin zu treiben. Dies geschieht auch in der Türkei, wo zum Beispiel die Mesopotamische Ökologiebewegung jüngst in ein System als lokalen und Provinzräten umgewandelt wurde. Jeder Rat ist unabhängig, jedoch mit anderen als Teil einer Konföderation vernetzt, die die politische Struktur der kurdischen Bewegung bildet.
Der Demokratische Konföderalismus fordert die Besitzvorstellung der kapitalistischen Moderne heraus; eine Herausforderung, die von indigenen Bewegungen angenommen wird, deren Erfahrung mit Gewalt im Zuge der modernen Nationalstaatsbildung sie dazu brachte, diese Route zu verlassen und auf Selbstbestimmung jenseits von Grenzen hinzuarbeiten. Ähnlich wie bei den Zapatistas in Mexiko werden in Rojava Entscheidungen über soziale Themen, von Infrastruktur und Energie bis zu Bildung und häuslicher Gewalt alle gemeinsam diskutiert und gelöst. Eine nationale verwaltende oder Besitz ausübende Regierung wird hier überflüssig – das Ziel ist, dass die Menschen selbst in Gemeinschaftsarbeit die Gesellschaft verwalten, in der sie leben.
Das bedeutet nicht, dass es keine Spannungen, Uneinigkeiten und gelegentlich auch Konflikte gäbe, gerade da die verinnerlichten Formen der Unterdrückung und autoritären Strukturen tiefe Wurzeln geschlagen haben, was sowohl zu politischer Apathie als auch zum Missbrauch politischer Macht führt. Deshalb ist es nötig, dass wir neu beginnen, uns zu bilden. Unsere Erziehungseinrichtungen stehen für eine bewusstere Mentalität, während unsere Hingabe an die Wiederherstellung einer kooperativen Gemeinschaft bedeutet, dass diese Herangehensweise bestärkt wird durch Personen, die vor Ort zu Schaffenden und Zeug_innen echten Wandels werden.
So bauen wir etwa eine kollektive Ökonomie auf Grundlage von Kooperativen auf. Dies schafft nicht allein hierarchiearme Verhältnisse zwischen Arbeitenden, sondern ebenso mit der Erde. Dies steht in krassem Kontrast zum heutigen globalisierten ökonomischen System, das die Ausbeutung der Natur zugunsten der Interessen einiger weniger vorzieht, anstelle wirtschaftlicher Gerechtigkeit. In Rojava sind hunderte Kooperativen entstanden. Sowohl die Nachfrage als auch die Wirtschaftsgeschichte der Region bringen mit sich, dass dabei Ackerbau priorisiert wird, wobei das Land vor Ort von den Menschen vor Ort gepflegt wird – viele von ihnen Frauen – wobei die Kommunen die gerechte Verteilung, Zweckbestimmung und Nutzung sicherstellen. Doch dieses Prinzip erstreckt sich auf alle Sektoren in Rojava; Arbeiter_innenkooperativen managen die Wirtschaft, inklusive kleiner Sektoren von Textil- und Ölherstellung sowie Nahrungsmittelverarbeitung, während Ärzt_innenkomitees daran arbeiten, ein kostenloses Gesundheitssystem zu entwerfen.

EIne ökologische Gesellschaft dient der Natur und den Menschen auf konstruktive Art, mit Hilfe angemessener Technologien

So sind etwa erneuerbare Energiequellen wie Solarzellen, Wind- und Wasserkraftwerke und Biogasanlagen – im Hinblick auf die Gaben, die die Natur uns in unserer Gegend bereitstellt – bessere Alternativen zu Öl, Staudämmen und Kernkraftwerken. Dadurch, dass große Teile der Region durch jüngste Konflikte zerstört worden sind, hat sich eine Lücke aufgetan, um mit Vorgehensweisen zu experimentieren, die die ökologische Last durch nachhaltiges Bauen und kommunale Prinzipien verringern. Ein neues Projekt zum Bau eines Gesundheits- und Sozialzentrums in Kobane beispielsweise wird mit thermischer Isolation, einem integrierten biologischen Abwasserzyklus und Solarenergie ausgestattet werden. All dies ist kein oberflächliches Nicken in Richtung „Nachhaltigkeit“; wenn die Wurzeln der Klimakrise in der zerstörerischen Natur der kapitalistischen Moderne selbst liegen, so muss eine ökologische Wirtschaft die Idee von Wachstum selbst hinterfragen und sich in Richtung einer rekonstruktiven, zyklischen Beziehung zur Natur orientieren.

Während sich der Ansatz der Bewegung aus der Konversation mit Gleichgesinnten in aller Welt entwickelt hat, spricht er gleichwohl die Geschichte, Kultur und Umwelt des kurdischen Volkes an, weshalb er hier zum Tragen gekommen ist, selbst unter den repressivsten Umständen. Unsere Mütter erinnern sich an eine Zeit ohne Zeit, in der es keine Grenzen gab, in der das Leben nomadisch war und als Feilschen und freies Austausch von Gütern Gang und Gäbe waren. Für sie ist es sowohl eine Rückforderung ihrer Vergangenheit als auch eine Vision für ihre Zukunft, wenn sie mit anderen Frauen Kooperative bilden, um Brot herzustellen – befreit von patriarchalen feudalen Strukturen, die ihnen ihre Rechte rauben. Und nicht nur das Patriarchat. Im Juli sandten Kämpferinnen der YPJ eine Botschaft der Solidarität an die Black Lives Matter-Bewegung, in der sie anerkannten, dass Sexismus sich im Einklang mit Rassismus und Kapitalismus entwickelt, und dass niemand von sich behaupten kann, wirklich frei zu sein, bis wir alle Formen der Herrschaft beseitigt haben.

Um eine ökologische Welt zu erbauen, benötigen wir neue Weltanschauungen, Kulturen sowie starke Institutionen, um sie zu schützen. Wir dürfen jene Menschen, die bereits jetzt die Pflastersteine für diesen Pfad auslegen, nicht desavouieren.