Der Osten des Westens

Zur Auffrischung: Gestern liefen bei einer Kundgebung gegen Repressionen ungefähr einhundert Neonazis mit schwarz-weiß-roten Fahnen, Pyrotechnik und Lautsprecherwagen durch die Stadtteile Dorstfeld und Marten im Westen Dortmunds. Auch für den heutigen Samstag ist ein Naziaufmarsch angekündigt. Die Dortmunder Antifa-Strukturen (für Ortsfremde: dies sind nicht weniger als vier) waren von der schnellen Mobilisierung vollkommen überfordert, es wurde Zielpersonen (PoC, Journalist_innen, bekannte Antifaschist_innen) davon abgeraten, die Demonstrationsroute und benachbarte U- und S-Bahnhöfe zu betreten, und bis auf die Livestreams des mutigen Bloggers Robert R. gab es keinerlei Berichterstattung.

Dass die Polizei den Mob streckenweise völlig unbegleitet laufen lässt und in der gleichen Zeit lieber – natürlich gänzlich frei von rassistischen Ressentiments – Shishabars in der Nordstadt kontrolliert und dort (wie ich aus erster Hand erfuhr) willkürliche Ausweiskontrollen vornimmt, ist weit davon entfernt, ein Skandal zu sein, denn es kann beim besten Willen nicht überraschen. Erst recht nicht in einem Bundesland, in dem Rechtsextreme wie Rainer Wendt einen massiven Einfluss auf die Polizeiarbeit haben.

Das alles können wir an dieser Stelle getrost beiseite lassen.

Aber solcherlei Aufmärsche bleiben nicht ohne Folgen. 

Da wären einerseits die offensichtlichen. People of Colour trauen sich nicht mehr vor die Tür, Einrichtungen politischer Gegner_innen werden entglast, Journalist_innen („Lügenpresse“) attackiert und (insbesondere die ortsansässigen) Nazis fühlen sich wieder einmal bestärkt und die Stadtteile wieder einmal unsicherer. Ich selbst wurde bisher bei jedem Aufenthalt in dieser Gegend der Stadt mindestens aus einem fahrenden Auto heraus angepöbelt und homophob beleidigt – Nazis hassen Punks.

Doch die Strömungen unter der Oberfläche sind mindestens ebenso gefährlich.

Sei es Dorstfeld oder – um ein Beispiel aus Ostdeutschland zu nennen – die Gegend um das Büro des III. Weg in der traditionsreichen Nazihochburg Plauen, wo die Rechtsextremen so sehr den Alltag prägen, dass sie sich nicht mehr ignorieren lassen und verwurzelte Anwohner_innen deswegen fortziehen: Wenn Faschist_innen merken, dass sie sich frei und unwidersprochen bewegen können, fühlen sie sich wohl und es entstehen pull-Faktoren.

Zuvor in ihren Gemeinden isolierte Rechte ziehen dorthin und bilden Communities, und mit diesen kommen Netzwerke und geteilte Infrastruktur, vom Lautsprecherwagen bis zur Adresse des Waffendealers. Dass ein massiver Anteil der militanten Neonaziszene in Deutschland auf der Gehaltsliste des Inlandsgeheimdienstes steht, wie die NSU-Prozesse und UAs zeigten, verbessert die Situation leider kein Stück, selbst wenn Hans-Georg Maaßens Nachfolger die intime Zusammenarbeit der Behörde mit den bürgerlichen Rechten in Gestalt der AfD nicht fortsetzen sollte.

Dies wäre wünschenswert: ein koordinierteres Handeln der (zugegebenermaßen abgekämpften und erschöpften) Dortmunder Antifaschist_innen; mehr Unterstützung aus dem Umland; eine Gegenöffentlichkeit, die sich mit Antifaschist_innen solidarisiert, anstatt scheinheilig abseits des Geschehens „Würstchen zu grillen“ (dieser Ausdruck ist hier als Beispiel für folgenlose Aktionen der bürgerlichen Mitte gegen Rechts zum Meme geworden) und Blockaden zu verurteilen; eine Politik, die endlich ein Problembewusstsein entwickelt; weiterhin neue Strukturen, wo noch keine sind: mehr unabhängige Gruppen, die auf Naziaufmärsche flexibel und zeitnah reagieren können.

Dortmund ist für mich eine neue Härte. Ich bin in Kiel aufgewachsen. Einmal sagte man mir in einem Gespräch mit anderen Linken wörtlich, ich habe ja zu antifaschistischer Arbeit nichts zu sagen, da ich aus einer Stadt komme, in der die fünf Nazis abends von der Antifa nach Hause zu Mama gebracht werden. Selbst die AfD hat mittlerweile ihre Wahlparties aus der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt heraus in das Umland verlegt, weil sie weiß, dass sie sonst mit einem lauten Abend zu rechnen hat. Aber all das war nicht immer so. Mir zeigt es: es ist möglich, der faschistischen Entwicklung wirksam und nachhaltig entgegenzutreten.

Packen wir es an, es ist wichtiger denn je.

Aufruf zur Ungeduld

Als es mich in diesem Jahr als Begleitperson auf die re:publica verschlug (unsere Gedanken und Gefühle zu bestimmten Aspekten dieser Veranstaltung haben wir bereits andernorts in einem Artikel kundgetan), drückte man mir im Vorbeigehen die aktuelle Ausgabe der brand eins in die Hand, von der man eigens eine ganze Palette zum Verteilen herangeschafft hatte. Bei der brand eins handelt es sich anscheinend um ein Wirtschaftsmagazin mit Hamburg als Redaktionsort und einer Auflage von gut 72.000 Stück. Seine Homepage weist sich als „Partner von Zeit Online“ aus, das Magazin wurde nach eigener Auskunft Ende der Neunziger Jahre vor dem Hintergrund des Wandels zur „Wissensgesellschaft“, wie er auch von Soziolog_innen festgestellt wird, gegründet. Davon und von seiner frischen Aufmachung abgesehen ist es ein Wirtschaftsmagazin wie jedes andere und erinnert verdächtig an die Hochglanzmagazine mit dem duty-free-Sortiment, die auf Mittel- und Langstreckenflügen an den Sitzplätzen bereit liegen. Der ganze Spaß kostet normalerweise zehn Euro. Einem geschenkten Gaul…

Das ansonsten wenig aufschlussreiche Cover des Magazins verkündet nur einen einzigen Inhalt: Geduld, trendig als Hashtag mit einer Raute davor und dem Aufruf „Stop it“. Nach einem Editorial der Chefredakteurin Gabriele Fischer, das interessanterweise ausgerechnet Armen Avanessian herbeizitiert, sowie einigen mehr, anderen weniger zu erwartenden Themen unter dem Leitsatz „Was Wirtschaft treibt“ folgt der „Schwerpunkt Geduld“, beginnend mit einem Leitartikel eines Wolf Lotter und der Vorstellung verschiedener Unternehmen, die sich nach Ansicht der Redaktion durch besondere Geduld am Markt hervorgetan haben, darunter eine für mich als studierten Philosophen nicht uninteressante Vorstellung des bis Mitte des letzten Jahrhunderts in Leipzig, seither in Hamburg ansässigen Meiner Verlags, eines der einschlägigsten Philosophie-Fachverlage im deutschsprachigen Raum.

Wer ist dieser Wolf Lotter? Zunächst einmal ist er Mitbegründer des „Magazins für Vorausdenker“, wie brand eins sich selber nennt, und schreibt, wie es aussieht, monatlich Essays zu den dort behandelten Schwerpunktthemen. Der Werdegang des gebürtigen Österreichers verlief, grob beschrieben, vom gelernten Buchhändler über das kulturelle Management hin zum Wirtschaftsjournalismus. Seine Artikel und Bücher befassen sich mit dem Wandel der Wirtschaft im 21. Jahrhundert und sind praktisch ausnahmslos Appelle an Produzen_innen wie Konsument_innen, „Deutschland“ (die angesprochenen Akteure bleiben im Einzelnen meist unspezifiziert) müsse doch diesdasjenes lernen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Ein roter Faden ist davon abgesehen nur zu erahnen. Sein jüngstes Buch trägt den wenig innovativen Titel „Innovation“ und den Untertitel „Streitschrift für ein barrierefreies Denken“. Aus Mitteln der Körber-Stiftung (die in einem interessanten bilateralen Verhältnis zur Körber AG mit ihrem Jahresumsatz von über zwei Milliarden Euro steht) finanziert, möchte es auf Umstände kultureller Art aufmerksam machen, die Lotter zufolge dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft in Deutschland im Wege stehen. In seiner Freizeit schreibt der Autor offenbar gerne ungefragte, gut gemeinte Ratschläge an andere „Anders-“ oder „Querdenker“, Frotzeleien und mehr oder minder scharfsinnige Betrachtungen über den Kapitalismus ins Internet, auf seiner Homepage sieht man ihn in Denkerpose, Daumen und Zeigefinger an das bärtige Kinn gelegt, verschmitzt über den Brillenrand in die Ferne schauend.


Dies lediglich zur ideellen wie ästhetischen Einordnung. Kommen wir zum Artikel. Zunächst einmal: der Stil ist gut. Er ist sogar so gut, dass man mit innerer Anspannung und Begeisterung weiterliest, nur um festzustellen, dass er inhaltlich völlig ins Leere läuft. Es gibt keine Richtung, nur freie Assoziation, die mal in diese, mal in jene Richtung führt, um etwas anschaulich zu machen, das sich entzieht. Am Ende bleibt das Resumee, Geduld sei nicht überholt, sondern wichtig. Quelle surprise! Wichtig wofür eigentlich?

Der Text beginnt mit einer kurzen Assoziationsabfrage zum Thema „das System“. Keine schlechte Idee, immerhin ist diese Worthülse tagtäglich Hauptgegenstand und -inhalt unbrauchbarer linker wie rechter Kritiken an, nun ja „dem System“ halt. Aber natürlich geht es um Wirtschaft. Okay, ganz häufig geht es auch um Antisemitismus. Das weiß Wolf Lotter, er kritisiert es manchmal auf Twitter. Danke, Herr Lotter. Was hier nun zunächst heranzitiert wird, ist Charles Chaplins Film Modern Times. Soso, eine Kritik der Ausbeutung des Arbeiters_der Arbeiterin im industriellen, fordistischen Kapitalismus? Nicht schlecht. Aber nein, darum geht es nicht, das macht der Autor deutlich, es geht nämlich eigentlich um Aktionismus. Die Industrie, die Fleißwirtschaft (durchaus eine brauchbare Übersetzung des Fremdwortes) beruhe „auf Tempo und Masse“. Daraus resultiere Ungeduld. Ist diese Produktionsweise an der Ungeduld unserer Zeit schuld? Dafür gibt es stichhaltige historische Indizien. Lassen wir das so stehen.

Gleichzeitig ist Ungeduld dann aber im nächsten Absatz keine Erfindung des Kapitalismus. Nein, das Übel wird benannt, es heißt Aktionismus und besteht im Machen von Versprechungen (man stellt sich die Frage, ob das nicht das Gegenteil von Aktionismus sei). Es wird das schlechte Bild beklagt, das „die Gesellschaft“ (lies: die Wirtschaft) von geduldigen Menschen habe. Und dann wird das gegenteilige Ideal beschworen: das Dranbleiben. Nanu, denkt man sich, das klingt entfernt nach Wirtschaftswunder-in-die-Hände-spucken-Rhetorik. Doch den Verweis auf diese Körperflüssigkeit, der ja, wie nun schon klar ist, keinesfalls ausbleiben darf, spart der Verfasser sich tatsächlich auf bis zum fünften der acht Abschnitte, in die der Text unterteilt ist (wir befinden uns übrigens gerade im zweiten).

„Mag ja sein, dass in der Kürze auch mal die Würze liegt, aber meist schmeckt die nach Glutamat“. Ein herrlicher Satz, ich würde ihn mir an die Wand schreiben, doch dann macht der Text wieder einen 90-Grad-Schlenker und verweist auf die im Rundfunk gespielten Radio Edits von Musikstücken, wir sind im Jahre 1970 und bei John Lennon, bei Instant Karma, wobei das buddhistische Motiv so derartig falsch übersetzt wird, dass ich meinen Leser_innen den Schmerz der Lektüre ersparen möchte. Das Resumee: „Das ist keine Konsumkritik, sondern eine an den Konsumenten“. Nun geht es zunächst einmal darum zu zeigen, dass der Konsument_die Konsumentin selbst schuld daran sei, etwa in der Technikbranche unbrauchbare Ware vorgesetzt zu bekommen: Schuld sei die Ungeduld, die ewige Gier nach Neuem. Durchaus nicht unbegründet, es ist immerhin jammerschade, dass ein Großteil heutiger Kapitalismuskritik sich ausschließlich an der Erzeugerebene abarbeitet, von der in dieser Hinsicht nicht allzu viel zu erwarten ist, und die Verbraucherebene gänzlich außer Acht lässt. Wohin der Autor will, ist jedoch wieder einmal nicht ersichtlich.

So schlängelt der Text sich fort, assoziativ Themengebiete touchierend: da geht es um Prokrastination als Nebenschauplatz des kritisierten „Aktionismus“, um Evolution, um Anspruchsdenken, um Beruf und Projekt, dann landet Lotter bei Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ (übrigens einer meiner Lieblingsromane), der hier irgendwie als Managementhandbuch für die Frühzeit der Digitalisierung gelesen wird – als Handbuch für den „Wissensarbeiter“, der hier dann auch endlich seine lang erwartete Spucke haben darf. Im Anschluss mäandert der Text zur „alten Wissensgesellschaft“, zu der der Klöster, es wird eine Parallele zur religiösen Praxis der Kontemplation gezogen. Alles schön und gut. Was irritiert, ist das Ende, sind die letzten beiden Abschnitte.


Für die Argumentation herangezogen wird ein Peter Heintel, Emeritus der Universität zu Klagenfurt, Philosoph und Unternehmensberater (au weia). In seiner Ratgeberliteratur vertritt er ähnliche Positionen wie Wolf Lotter selbst. Auch er redet von der Wissensgesellschaft, von langfristigen Lösungen, vom Wagen. Bei gründlicher Lektüre weist der Text hier jedoch einen heftigen Bruch, eine Art inneren Widerspruch auf. Dieser Abschnitt war es, der mein Interesse geweckt hatte: Es geht darin nämlich zunächst um mein Lieblingsthema, nämlich um Macht.

„Wir haben kulturell immer noch den Schlag ins Gewalttätige“, wird Heintel zitiert. Als „kulturelles Vorbild“ wird Alexander der Große herangezogen, der den Gordischen Knoten nicht löst, sondern zerschlägt. Lassen wir uns nicht von Nebensächlichkeiten ablenken, beispielsweise, ob der Makedonenkönig heute wirklich noch allen als Vorbild dient (im narzisstischen Manager-Mikrokosmos gilt in dieser Hinsicht ja alles als möglich), oder ob der Knoten überhaupt… nein, wir lassen die historischen Zeugnisse beiseite. Heintel hat doch völlig recht. „Konzentration fürs Wesentliche“, das will er. Was das sein mag, bleibt ungesagt. Aber langfristig müssen die Problemlösungen der Wissensgesellschaft sein. Ob der Philosoph und der Journalist dabei auch an den Klimawandel gedacht haben? Wolf Lotter gilt ja schließlich als Kritiker des Geredes von der globalen Erwärmung und artikuliert das auch gerne.

Die Macht, so Heintel, könne keinen Widerspruch dulden. Und die Geduld ist gleichsam die Spur der Macht. Der Anführer, lies: der Chef, hat den Untergebenen (den Angestellten; das Verhältnis lässt sich allerdings auch herrlich auf die Bürokratie der Hartz-Zwangsarbeitsgesetze übertragen) herumzuschubsen, hat physisch Stärke zu zeigen, ungeduldig zu sein – wo die Angestellten mit dem Chef ungeduldig werden, droht Rebellion.

Und so, liebe Kinder, genau so geht gute Basisgewerkschaftspraxis.
Macht braucht Anerkennung. Und die kann man verweigern.

Ungeduld, so Heintel, solle die Entwicklung fördern, nicht den Bruch. Was sagt Lotter dazu? Es sei doch hilfreich, wenn die Leute sich mehr austauschten. Wie das in einer auf Konkurrenz und Wettbewerb aufgebauten Ökonomie – und damit Gesellschaft – möglich sein soll, wird nicht gesagt. Dafür müsse man „wie bei der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und unbekannten Systemen, nicht alles wissen und nicht alles aushalten und hinnehmen – aber so viel Kontextwissen sammeln, um zu verstehen, warum die sich so und nicht anders verhalten“. Noch ein absolut phantastischer Satz, ich wäre dankbar für die Formulierung gewesen, als ich noch Mentor für internationale Studierende war. Aber auch schwierig in einer Zeit, in der stramm rechte Parteien den Ausschluss von Benachteiligten zur Strategie machen wollen, die „Volksgemeinschaft“ wirtschaftlich zu stärken, und sich dafür neoliberaler Rhetoriken bedienen, woraufhin die Neoliberalen das Ding als Ganzes kaufen. Ich habe mal versuchsweise Zitate von Alice Weidel und Christian Lindner gesammelt und in eine Zufallsreihenfolge gebracht. Am Ende konnte sie niemand richtig zuordnen.

Am Ende, im letzten Abschnitt, wird der Text richtig würzig. Da wird ein Ingo Pies zitiert, anscheinend ein Wirtschaftsethiker aus Halle (Saale), der Bücher unter anderem über new governance schreibt. Ein Teil meiner Definition könnte die Leser_innen verunsichern. Der behauptet nun, den Kapitalismus gäbe es „ohne Interesse an Langfristigkeit“ gar nicht. An den Klimawandel hat da natürlich niemand gedacht, aber für Wolf Lotter ist das ja ohnehin nur Hysterie. denn „der viel gescholtene Kapitalismus [hat] mehr Verstand und mehr Geduld verdient, nicht nur von seinen Betreibern, sondern in Zeiten wie diesen ganz besonders von seinen zahlreichen Kritikern“.

Augenblick mal. Hatten wir nicht dreihundert Jahre lang Geduld? Hat der Großteil der Bevölkerung nicht, wann immer die nächste Wirtschaftskrise durchhungert war, geduldig auf Reformen gewartet? Kämpft die globale Arbeiter_innenklasse nicht seit Mitte des 19. Jahrhunderts für gerechte Löhne und Mitsprache am Arbeitsplatz? „Für einen erfolgreichen Kapitalismus ist vor allen Dingen eines wichtig: die Investition“, wird wieder dieser Ingo Pies zitiert, „und Investitionen sind klassischer unternehmerischer Langmut“. So. Moment. Augenblick. Das geht jetzt wirklich zu weit. Heintel, in den Achtziger Jahren in Österreich übrigens noch als Marxist verschrien, hatte doch so gut vorgelegt. Die Arbeiterin hat immer auszuhalten, abzuwarten, zu ertragen. Der ganze letzte Abschnitt des sonst stellenweise so gelungenen Textes ist ein Bilderbuchbeispiel für unternehmerische Verklärung und Privilegienblindheit.

Wenn der Kapitalismus von Investitionen lebt, wie steht dann die Investitionsmasse dazu? Diejenigen, die nichts zu investieren haben als ihre Arbeitskraft? Für neunzehn von zwanzig Arbeitnehmer_innen wird das „Hocharbeiten“ eine Illusion bleiben, die sie treu und Widerspruchsfrei am Schreibtisch, an der Maschine, im Labor hält, bis der Standort aufgrund einer Vorstandsentscheidung geschlossen wird, weil anderswo die Produktionskosten niedriger sind. Und dann? Geduld, wie Herr Lotter sie versteht heißt auch, ohne Erträge auszukommen. Ein Luxus, den die meisten Selbstständigen, die ich kenne, auch nicht haben. Die klassischen Arbeitnehmer_innen, ob sie im Virtuellen arbeiten oder mit den Händen am Werkstück, die Selbstständigen, Künstler_innen, Erwerbslose, die sich mit Minijobs durchschlagen (und damit übrigens die gleichen Rechte haben wie Vollbeschäftigte) – alle zusammen bilden heute das Prekariat. Und eigentlich sollten alle genug haben.


Seien wir ungeduldig! Mit Chefs, mit Regierungen, mit Herrschaftsansprüchen. Lassen wir nichts mehr durchgehen. Machen wir alles open source, lernen wir, commons zu verwalten, drehen wir der Wissensöökonomie die Luft ab. Wissen ist nämlich kein Handelsgut. Es gehört allen. Habe ich jetzt auch ein Songzitat gut, mit dem ich auf John Lennon antworten darf? Dann zitiere ich Rio Reiser:

Wir brauchen keinen starken Mann
Denn wir sind selber stark genug.
Wir wissen selber, was zu tun ist
Unser Kopf ist groß genug.

Ein paar Seiten weiter heißt es: „Es war noch nie so einfach, einen Betrieb zu gründen“. Das stimmt! Ich hätte es selbst einmal fast getan. Dann habe ich es aber sein gelassen, weil ich nicht wusste, wie es danach weitergehen sollte. Ist eben doch nicht so einfach, ohne Kapital.


Witzig: den Rücken dieser Ausgabe, die nicht müde wird, die Geduld zu loben, bildet eine DIN A4-Werbeanzeige für den Cosmograph Daytona von Rolex – mit den Worten: „Diese Uhr ist eine Zeitzeugin des der Geschichte des Motorsports“. Alte Situationistenregel: Alles bleibt so, wie es niemals war.

Bis neulich,

euer
A. E. Wolf

Der erwähnte Artikel ist hier zu finden: brand eins, 20. Jg., Heft 05 (Mai 2018)

„Eine kurdische Antwort auf den Klimawandel“

Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um eine Übersetzung des Artikels „A Kurdish Response to Climate Change“ von Anna Lau, Erdelan Baran und Melanie Sirinathsingh, der ursprünglich am 18. November 2016 auf opendemocracy und am 11. Januar auf der Homepage der Internationalistischen Kommune Rojava veröffentlicht wurde.

Besondere Aufmerksamkeit sollte dieses Thema erfahren, da die im Zuge des syrischen Bürgerkrieges enstandenen kurdischen Autonomiegebiete nach wie vor von allen Seiten unter Beschuss stehen, während der politische Arm der großen kurdischen Diaspora in Deutschland aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zur in der BRD zur Terrororganisation erklärten PKK massiv kriminalisiert wird und mit Repressionen zu kämpfen hat.

 

Begriffserklärungen:

Afrin/Efrin: Enklave im Norden Syriens, in der die kurdische Autonomiebewegung ihr Gesellschaftsmodell vorantreibt; zum jetzigen Zeitpunkt verübt die türkische Armee in Afrin einen Völkermord an der kurdischen Bevölkerung; die BRD genehmigt währenddessen weiter Waffen, darunter Leopard 2-Panzer, an die Türkei.

Black Lives Matter: Bei BLM handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Bewegung aus den Vereinigten Staaten, die sich gegen Gewalt an Schwarzen Personen, insbesondere durch die Polizei, einsetzt.

HDP: Die HDP ist eine linke demokratische Partei in der Türkei, die sich für die Rechte von ethnischen Minderheiten und Frauen einsetzt und der kurdischen Bewegung nahe steht. Die Erdoğan-Regierung bekämpft die HDP, indem sie Parlamentsmitgliedern Mandate entzieht und sie inhaftiert.

PKK: Die Arbeiterpartei Kurdistans ist eine militante politische Organisation, die für die Abspaltung der kurdisch geprägten Gebiete in der Türkei kämpft. Anschläge der PKK und ethnische Säuberungen seitens des türkischen Staates haben sich im Laufe der Zeit zu einem blutigen Konflikt hochgeschaukelt. Da die Türkei militärischer Bündnispartner der BRD ist, wird die PKK in Deutschland als „ausländerextremistische“ Terrororganisation geführt.

Rojava: westlichster (syrischer) Teil Kurdistans, in dem auf Grundlage von Abdullah Öcalans libertär-sozialistischen „Demokratischen Konföderalismus“ ein neues Gesellschaftsmodell erprobt wird.

YPG / YPJ: Die kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Syrien. Bei der YPJ handelt es sich um eine reine Frauenarmee.

 

 

Das Lower Class Magazine hat jüngst ein Interview mit aktiven Personen aus der deutschen und der kurdischen Linken in Deutschland veröffentlicht, das die Zusammenhänge ihrer jeweiligen Kämpfe genauer verortet:

http://lowerclassmag.com/2017/12/antistaatliche-raeume-muessen-ausgeweitet-werden-ueberall/

 

Der Originaltext ist hier zu finden:

https://www.opendemocracy.net/uk/anna-lau-erdelan-baran-melanie-sirinathsingh/kurdish-response-to-climate-change#_ftn1

 

 

Gespräche mit der Kurdischen Befreidungsbewegung über eine ökologische Gesellschaft und demokratischen Konföderalismus.

In den 4000 Jahren seit dem Zusammenbruch des Akkadischen Reichs in Mesopotamien wies fast jeder große Kollaps von Gesellschaften fünf Tendenzen auf: Massenmigration, Zusammenbruch von Staaten, Hungersnöte, Epidemien und Klimawandel. Worin sich die heutige Zeit von ihnen unterscheidet, ist, dass während Zusammenbrüche in der Vergangenheit geographisch beschränkt waren, die Globalisierung kohlenstoffintensiver Industrien seit den 1800er Jahren und insbesondere in den letzten vier Jahrzehnten bedeutet, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung zunehmend verschwimmt. Viele der Menschen, die heute unter menschlich verursachtem Klimawandel leiden, sind zugleich die, die am wenigsten dafür verantwortlich sind. Das Projekt Climate Stories glaubt daran, dass die Verhinderung weiterer Schäden und die Aufgabe, eine neue Welt zu bauen, von denen angeführt werden muss, die als Erste hören, wie die Erde sich im Protest erlebt, die sich mit den Gründen dafür auseinandergesetzt haben und die Lösungen entwickeln. Im Geiste dieser Idee dokumentiert dieser Artikel Reflektionen aus einer Serie von Unterhaltungen über den Klimawandel mit Mitgliedern der kurdischen Bewegung.

Auf der Suche nach den Wurzeln einer „Klimakrise“ im 21. Jahrhundert

In der Geschichte der Umweltbewegungen gibt es zwei einander gegenüberstehende Trends. Der erste ist reformistisch und bevorzugt environmental engineering [die gezielte Beeinflussung der Umwelt durch geplantes menschliches Handeln; Anm. d. Übers.]. Diese Herangehensweise betrachtet die Natur noch immer nach dem Maßstab, wie sie durch „umweltfreundliche“ Reformen und Technologien menschlichen Bedürfnissen dienen kann. Aus Sicht der kurdischen Bewegung umgeht dies die Frage, wer von Umweltschäden profitiert hat, und verzögert effiziente Lösungen. Der zweite Ansatz ist ein tiefenökologischer, der die Tendenz hat, die Technologie und den Menschen zu problematisieren. Auch er ist beschränkt, denn, ob es uns gefällt oder nicht, es sind immer noch Menschen, die im Laufe der Zeit das größte Vermögen entwickelt haben, die Natur zu formen. Diese Macht kann genutzt werden, um die Natur zu erneuern und zu schützen, oder um sie zu zerstören. Wenn also Tiefenökologen sagen, Menschen seien für alles verantwortlich, implizieren sie, dass die Bosse der Petroindustrie nicht schuldiger seien als unsere kurdischen Großmütter, die in ihren Dörfern leben und das Land pflegen.

Um sich jenseits dieser zwei Ansätze bewegen zu können, müssen wir die positive Rolle verstehen, die menschliche Technologien in der wechselseitigen Beziehung zwischen biologischer Natur und menschlicher Gesellschaft gespielt hat – und wieder spielen könnte. Müssen wir wirklich in einem Käfig in unserem Haus einen Vogel halten, um unsere Liebe für ihn auszudrücken, wenn es doch seine Natur ist, draußen zu fliegen?

Ebenso müssen wir die Wurzeln der heutigen Klimakrise verstehen lernen. Wie ist die Idee der Kontrolle über die Natur überhaupt entstanden? Können Menschen die „äußere“ Natur kontrollieren, wenn sie nicht zunächst Herrschaftsstrukturen unter sich aufbauen? Unsere Ansichten dazu beruhen auf unser 5.000-jährigen Geschichte. Der inhaftierte Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan hat darüber geschrieben, wie in den Tempelkomplexen des antiken Mesopotamiens erstmals Hierarchie institutionalisiert [soziologisch im Sinne von „verstetigt“, Amn. d. Übers.] wurde, angefangen mit dem Aufstieg des männlichen Priesters und der Institutionalisierung des Patriarchats. Es folgten der Staat, die [Schuld-]Sklaverei, das stehende Heer, Privateigentum; Merkmale vieler Gesellschaften, die wir heute kennen.

Für Öcalan verlaufen zwei Tendenzen der Zivilisation parallel. Gegen Ende der Jungsteinzeit wurden Strukturen, die auf Hierarchie, Gewalt und Unterwerfung beruhen, immer üblicher. Und dennoch stammt aus derselben Ära, um 2.300 v. Chr., auch das erste Wort um das Konzept „Freiheit“ auszudrücken – amargi, wörtlich „die Rückkehr zur Mutter“.

Dies ist die Grundlage dessen, was er als „demokratische Zivilisation“ bezeichnet, die zahlreiche historische Herausforderungen durchläuft und heute fortbesteht, besonders in indigenen Gesellschaften, die noch immer kommunale Politik praktizieren; in Rojava, unserem am besten bekannten Modell dessen, was wir als „ökologische Gesellschaft“ bezeichnen können, sprechen viele von einer „Rückkehr zu unserer Natur“. In anderen Worten, der Rückkehr zu einer Gesellschaft, die auf der Freiheit der Frazen, Ökologie und Demokratie in allen Sphären des Lebens beruht.

Frauen und Land

In der kurdischen Sprache hat das Wort Jin eine doppelte Bedeutung: es bedeutet Frau, aber es kommt auch von der Wurzel Jiyan, was Leben bedeutet. Für uns bedeutet die Unterdrückung der Frau also unausweichlich, das Leben selbst zu unterdrücken.

Dies nimmt in unserer Theorie der Befreiung einen zentralen Platz ein, und Frauenforschung, unter der Bezeichnung jineology, ist zu einem der fundamentalen Grundsätze der kurdischen Bewegung geworden. Jahrhundertelang war die Frau die Hüterin des Wissens über Nahrung, Natur, Wachstum, Medizin, Heilung. Sie war unerlässlich für das System agrikultureller Produktion, in dem Feldfrüchte zwischen Gemeinschaften gerecht geteilt wurden, und war Inhaberin wichtiger sozialer Macht [einen hervorragenden Überblick zu diesen Themen bietet Val Plumwoods Klassiker „Feminism and the Mastery of Nature“ von 1993, von dem allerdings leider noch immer keine deutsche Übersetzung vorliegt. Anm. d. Übers.].

Heute machen Frauen nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) noch immer den Großteil der Arbeitenden in der Landwirtschaft weltweit aus und bauen mehr als die Hälfte der Nahrungsmittel der Welt an. Auch in Kurdistan stehen Frauen im Zentrum der ländlichen Wirtschaft. Viele kurdische Haushalte im türkischen Hinterland werden von Frauen geführt, seit die Väter und Söhne im Krieg umgekommen oder verschwunden sind. Unsere lokalen Beispiele bringen uns zum Nachdenken über die sozialen Widersprüche, die wir beobachten: die heutige globale Agrarproduktion kann das Eineinhalbfache der Weltbevölkerung ernähren, und dennoch sind 800 Millionen Menschen chronisch unterernährt. Aus unserer Sicht ist dies ein Symptom dessen, wie die kapitalistische Moderne im Laufe der Zeit funktioniert hat, mit der Institutionalisierung sehr spezifischer politische Infrastrukturen und sozialer Prozesse. Diese haben Ressourcen zum Privileg einer Minderheit gemacht, über die sie selbst über große Distanz verfügen kann, wodurch viele andere in Armut getrieben wurden. Die Wurzeln dessen liegen in der frühesten Form von Herrschaft, der von Männern über Frauen.

Der kurdische Kontext heute

Den Widerhall der Vergangenheit zu verstehen ist notwendig, um den kurdischen Kontext zu verstehen. Kurden sind eines der ältesten Völker, die im Zweistromland leben. Wir zählen vierzig Millionen, doch hatten nie unsere Identität in Form eines Nationalstaats gebündelt. Kurden zählen auch zu den ältesten Anhängern des Zoroastrismus [im deutschsprachigen Raum hauptsächlich durch seinen Stifter Zarathustra bekannt, Anm. d. Übers.], der auf Harmonie mit der Natur basiert und sich um die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde dreht. Aus diesen Wurzeln hat die kurdische Kultur, verbunden mit dem Land, das wir bewohnen, im wahrsten Sinne eine Agri-Kultur entwickelt. Die reiche Artenvielfalt der Region ist die Wiege einer der ersten sesshaften, Ackerbau treibenden Gesellschaften der menschlichen Zivilisation. Millionen Hektar bewässertes Land im Tigris-Euphrat-Becken produzierten Gerste, Baumwolle, Vieh, Obst und Gemüse und die kurdischen Regionen Syrien und des Iraks galten seit jeher als „Kornkammer“ dieser Länder.
In diesen Gegenden befinden sich auch einige der größten Ölreserven der Region, und der Durst nach fossilen Energieträgern hat Kurdistan zu einer begehrten geostrategischen Region gemacht.Seit dem 19. Jahrhundert kreisten britische und französische Interessen um Mosul und Kirkuk, beeinflussen Abkommen zwischen internationalen Mächten, legten Kurdistans Grenzen fest und gestalteten den Zugang zu den Ressourcen der Region kompliziert. Internationale Ölunternehmen und der von ihnen angesammelte Wohlstand beherrschen die Städte des Irak in Frm von Wolkenkratzen, dem Symbol des internationalen Finanzkapitals, während die agrikulturelle Produktion abnahm, als Konflikte in der Region wüteten.

In der Türkei hat die Mechanisierung der Landwirtschaft in den 50er und 60er Jahren (teilweise finanziert durch den Marshallplan) Kurd_innen aus ihrer angestammten Heimat in die Elendsviertel der Städte im Westen der Türkei vertrieben, während eine Politik der gewaltsamen Anpassung sie von ihrem Land trennte. Um simultan die Identität jener zu untergraben, die zurückblieben, wurden historische und kulturelle Denkmäler zerstört. Im ländlichen Kurdistan wurden Atomkraftwerke gebaut und bedrohten Ackerbau, Viehzucht, Lebensgrundlagen. Als die jüngste Welle des kurdischen Widerstands in den 1980er Jahren begann, antwortete der türkische Staat mit der Zerstörung von 5.000 Dörfern und hunderten Hektar Wald. Diese Gewalt setzt sich bis heute fort. Zwischen Juli 2015 und April 2016 wurden in der gesamten südöstlichen Türkei fast 400 Zivilist_innen von türkischen Spezialkräften getötet und im Zuge von Ausgangssperren und militärischen Übergriffen 300.000 Personen vertrieben. Berichten zufolge richtete sich die Zerstörung auch hier nicht gegen die Städte, sondern auch gegen die Wälder der Umgebung. Erst jüngst, am 4. November, wurden gewählte kurdische Beamte festgenommen und in Einzelhaft gesetzt, als Teil anhaltender Razzien gegen die Bewegung.

Die Vertreibung von Kurd_innen von ihrem Land zerstörte Leben, Land und Kultur, die Basis der Identität. Unsere Erfahrungen haben uns klargemacht, wie eng Kultur, Identität, und damit auch Wohlbefinden, von der Umwelt beeinflusst werden, in dem ein Volk lebt.

Wenn Ackerbau das Fundament unserer Gesellschaft ist, dann ist Wasser ihre Mutter. Heute sind Euphrat und Tigris – Quellen des Lebens, die durch die kurdischen Gegenden in Türkei, Syrien und Irak fließen, zusätzliche geopolitische Bedeutung gewonnen, da Wasserknappheit, ebenso wie Nahrungsknappheit, zur Triebfeder regionaler Konflikte geworden sind. Flüsse kennen keine Grenzen und ignorieren die politischen Karten.

Mit Blick auf die Räson dieser Arterien der Erde sollten die Völker, Nationen und Regierungen der Erde gemeinsam für die Erhaltung und den gerechten Gebrauch des Wassers arbeiten, das der Erde gehört. Dies war jedoch bislang nicht der Fall. Entwicklungsprojekte um Wasser haben vielfach die Türkei, Syrien und den Irak an den Rand des Krieges gebracht, mit dem nicht anerkennten Volk Kurdistans, an den Flüssen lebend, in der Mitte. Heute wird das Southeastern Anatolia Project (GAP) in den kurdischen Regionen der Türkei ausgeführt, im Zuge dessen 22 Dämme gebaut werden. Der Ilisu-Damm am Tigris wird den Wasserfluss in den Irak und nach Syrien verringern und hunderte und tausende Menschen aus Orten wie Hasankeyf, einer der am längsten durchgängig besiedelten Städte der Erde, vertreiben. Während Projekte wie dieses fast immer als „Entwicklung und Fortschritt“ gerechtfertigt werden, ist das GAP-Projekt ein gezielter Versucht, die Gegend zu entvölkern, Anwohner_innen in die Städte zu zwingen, das soziale Gewebe Kurdistans zu unterminieren, und eine Art „natürliche“ Barrikade gegen die PKK-Guerillas zu errichten.

Auf dem Weg zur „ökologischen Gesellschaft“

Ebenso, wie die natürliche Umwelt menschliche Identität und Kultur formt, so formt die Menschliche Gesellschaft die Natur. Die Hingabe an Profit durch Überproduktion hat die globale Gesellschaft zur Selbstzerstörung getrieben, mit dem Ergebnis einer Welt, in der eine der profitablen Industrien die Waffenindustrie ist; in der Volkswirtschaften Monopole und die direkte oder indirekte Kolonisierung anderer Länder bestärken; in der Landwirtschaft durch ressourcenintensive Industrien, verantwortungslose Genmanipulation und Verlust an Saatenvielfalt ihren Wert verloren hat. WIr sind an einem Punkt angekommen, an dem die Menschheit handeln muss, um demokratischen Wandel in allen Aspekten unseres Lebens zu bewirken, andernfalls werden wir uns vollkommen von der Natur getrennt haben.

Für die kurdische Bewegung beginnt eine ökologische Gesellschaft mit der Zerstörung des Patriarchats. Die westliche Presse hat sich daran abgearbeitet, dass kurdische Frauen sich im bewaffneten Kampf organisiert haben, so auch zuletzt in den Selbstverteidigungskräften der YPJ in Rojava und der YJA-STAR in anderen Teilen Kurdistans. Der entmenschlichende Orientalismus dieser Geschichten verschleiert das Gesamtbild: dass die Selbstbestimmung der Frauen wesentlich ist für den Erfolg unserer Kämpfe und unserer Viseion einer befreiten, demokratischen und ökologischen Gesellschaft. Frauen betreiben nun Akademien in ganz Kurdistan, richten ausschließlich weibliche Dörfer für Opfer von Missbrauch ein, und sind die aktivsten Mitglieder zivilen und politischen Lebens, in Räten, Kommunen und als Repräsentantinnen in politischen Parteien.

Auf jeder Ebene der Gesellschaft müssen 40% aller politischen Ämter von jedem Geschlecht besetzt sein, durch ein System der Ko-Präsidentschaft, in dem nur Frauen das Recht haben, den weiblichen Vorsitz zu wählen, während alle den männlichen Vorsitz wählen. Dadurch wird die Macht geteilt, ein Mehrwert an Bildung produziert und ein gerechter Konsens in allen politischen Entscheidungen gefördert.

Eine ökologische Gesellschaft basiert auf Demokratischem Konföderalismus innerhalb demokratischer Nationen anstelle von Repräsentativdemokratie innerhalb von Nationalstaaten. Die meisten Staaten wurden durch entzweiende Projekte der nationalen „Einigung“ errichtet, die manchmal bereits existierender Spannungen bedienten, sie manchmal erst erschufen, die Familien und eingelebte Gemeinschaften auseinander trieben um ihre hochgradig militarisierten und nichtsdestoweniger künstlichen Grenzen zu ziehen, die die Menschen davon abhalten, für die heutigen Probleme kollektive Verantwortung zu übernehmen.

Dies ist ein Vermächtnis der rassistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die die Existenz „überlegener“ und „unterlegener“ Rassen zu „beweisen“ meinte, die die politische Philosophie Europas mit dem Nationalstaat zu einer einzelnen ethnischen oder kulturellen Identität verband. In heutiger Zeit hallt dies in vielerlei Hinsicht nach; dazu zählt der Glaube, es sei schwierig für Menschen verschiedener Kulturen, gemeinsam in einem Staat zu leben, was ausblendet, dass das Problem in den diskriminierenden Prinzipien moderner Staatlichkeit begründet ist.

Im Gegensatz dazu glauben wir und erleben täglich, dass je vielfältiger eine Nation ist, desto stärker seine Demokratie ausfällt. Deshalb ist die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei, die vielfältigste Partei im türkischen Parlament und repräsentiert alle Gemeinschaften Mesopotamiens und Anatoliens; Kurden, Türken, Armenier, Araber, Assyrer, Muslime, Aleviten, Christen und Jesiden. Bei den Wahlen in der Türkei 2015 erzielte die HDP einen historischen Erfolg und gewann 59 Sitze. Doch am 4. November 2016 wurden elf der Mandatsträger_innen, inklusive der beiden Vorsitzenden, vom türkischen Staat in Haft genommen.
 
Warum ist dies so bedeutsam? Wir müssen uns daran erinnern, dass wenn verschiedene ethnische und religiöse Gruppen im Nahen Osten geeint wären, es sich so viel schwieriger gestalten würde, die Region zu teilen und zu beherrschen. Wie ein arabisches Mitglied der Verwaltung von Rojava der kurdischen Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Dilar Dirik erläuterte:
‘Das System demokratischer Autonomie in unseren drei Kantonen erschüttert und empört die ganze Welt, weil das kapitalistische System trotz all seiner Heuchelei keine Freiheit und Demokratie im Nahen Osten will. Deshalb greifen sie alle Rojava an. Die verschiedenen Formen des Staats, die sich in der Syrischen Arabischen Republik unter Assad und unter dem Islamischen Staat (IS) gezeigt haben, sind zwei Seiten derselben Medaille, da sie beide das Mosaik kultureller Vielfalt in unserer Region verleugnen und zerstören. Doch mehr und mehr Araber_innen aus dem Rest von Syrien kommen nach Rojava und lernen über demokratische Autonomie, weil sie hier eine Perspektive der Freiheit erblicken.’
Die meisten Nationalstaaten zentralisieren die Entscheidungsgewalt, so dass gerade dort, wo sie am dringendsten nötig wäre, wenig politische Aktivität stattfindet. Der Demokratische Konföderalismus hingegen beruht auf direkter Demokratie. Mit der Niederlegung des „Sozialvertrags“ in Rojava kommen Menschen verschiedener Nationen und verschiedenen Glaubens zusammen um Politik durch direkte Teilhave in Kommissionen, Komitees, Räten und Kommunen von der Nachbarschaft über Regionen und Städte hin zu treiben. Dies geschieht auch in der Türkei, wo zum Beispiel die Mesopotamische Ökologiebewegung jüngst in ein System als lokalen und Provinzräten umgewandelt wurde. Jeder Rat ist unabhängig, jedoch mit anderen als Teil einer Konföderation vernetzt, die die politische Struktur der kurdischen Bewegung bildet.
Der Demokratische Konföderalismus fordert die Besitzvorstellung der kapitalistischen Moderne heraus; eine Herausforderung, die von indigenen Bewegungen angenommen wird, deren Erfahrung mit Gewalt im Zuge der modernen Nationalstaatsbildung sie dazu brachte, diese Route zu verlassen und auf Selbstbestimmung jenseits von Grenzen hinzuarbeiten. Ähnlich wie bei den Zapatistas in Mexiko werden in Rojava Entscheidungen über soziale Themen, von Infrastruktur und Energie bis zu Bildung und häuslicher Gewalt alle gemeinsam diskutiert und gelöst. Eine nationale verwaltende oder Besitz ausübende Regierung wird hier überflüssig – das Ziel ist, dass die Menschen selbst in Gemeinschaftsarbeit die Gesellschaft verwalten, in der sie leben.
Das bedeutet nicht, dass es keine Spannungen, Uneinigkeiten und gelegentlich auch Konflikte gäbe, gerade da die verinnerlichten Formen der Unterdrückung und autoritären Strukturen tiefe Wurzeln geschlagen haben, was sowohl zu politischer Apathie als auch zum Missbrauch politischer Macht führt. Deshalb ist es nötig, dass wir neu beginnen, uns zu bilden. Unsere Erziehungseinrichtungen stehen für eine bewusstere Mentalität, während unsere Hingabe an die Wiederherstellung einer kooperativen Gemeinschaft bedeutet, dass diese Herangehensweise bestärkt wird durch Personen, die vor Ort zu Schaffenden und Zeug_innen echten Wandels werden.
So bauen wir etwa eine kollektive Ökonomie auf Grundlage von Kooperativen auf. Dies schafft nicht allein hierarchiearme Verhältnisse zwischen Arbeitenden, sondern ebenso mit der Erde. Dies steht in krassem Kontrast zum heutigen globalisierten ökonomischen System, das die Ausbeutung der Natur zugunsten der Interessen einiger weniger vorzieht, anstelle wirtschaftlicher Gerechtigkeit. In Rojava sind hunderte Kooperativen entstanden. Sowohl die Nachfrage als auch die Wirtschaftsgeschichte der Region bringen mit sich, dass dabei Ackerbau priorisiert wird, wobei das Land vor Ort von den Menschen vor Ort gepflegt wird – viele von ihnen Frauen – wobei die Kommunen die gerechte Verteilung, Zweckbestimmung und Nutzung sicherstellen. Doch dieses Prinzip erstreckt sich auf alle Sektoren in Rojava; Arbeiter_innenkooperativen managen die Wirtschaft, inklusive kleiner Sektoren von Textil- und Ölherstellung sowie Nahrungsmittelverarbeitung, während Ärzt_innenkomitees daran arbeiten, ein kostenloses Gesundheitssystem zu entwerfen.

EIne ökologische Gesellschaft dient der Natur und den Menschen auf konstruktive Art, mit Hilfe angemessener Technologien

So sind etwa erneuerbare Energiequellen wie Solarzellen, Wind- und Wasserkraftwerke und Biogasanlagen – im Hinblick auf die Gaben, die die Natur uns in unserer Gegend bereitstellt – bessere Alternativen zu Öl, Staudämmen und Kernkraftwerken. Dadurch, dass große Teile der Region durch jüngste Konflikte zerstört worden sind, hat sich eine Lücke aufgetan, um mit Vorgehensweisen zu experimentieren, die die ökologische Last durch nachhaltiges Bauen und kommunale Prinzipien verringern. Ein neues Projekt zum Bau eines Gesundheits- und Sozialzentrums in Kobane beispielsweise wird mit thermischer Isolation, einem integrierten biologischen Abwasserzyklus und Solarenergie ausgestattet werden. All dies ist kein oberflächliches Nicken in Richtung „Nachhaltigkeit“; wenn die Wurzeln der Klimakrise in der zerstörerischen Natur der kapitalistischen Moderne selbst liegen, so muss eine ökologische Wirtschaft die Idee von Wachstum selbst hinterfragen und sich in Richtung einer rekonstruktiven, zyklischen Beziehung zur Natur orientieren.

Während sich der Ansatz der Bewegung aus der Konversation mit Gleichgesinnten in aller Welt entwickelt hat, spricht er gleichwohl die Geschichte, Kultur und Umwelt des kurdischen Volkes an, weshalb er hier zum Tragen gekommen ist, selbst unter den repressivsten Umständen. Unsere Mütter erinnern sich an eine Zeit ohne Zeit, in der es keine Grenzen gab, in der das Leben nomadisch war und als Feilschen und freies Austausch von Gütern Gang und Gäbe waren. Für sie ist es sowohl eine Rückforderung ihrer Vergangenheit als auch eine Vision für ihre Zukunft, wenn sie mit anderen Frauen Kooperative bilden, um Brot herzustellen – befreit von patriarchalen feudalen Strukturen, die ihnen ihre Rechte rauben. Und nicht nur das Patriarchat. Im Juli sandten Kämpferinnen der YPJ eine Botschaft der Solidarität an die Black Lives Matter-Bewegung, in der sie anerkannten, dass Sexismus sich im Einklang mit Rassismus und Kapitalismus entwickelt, und dass niemand von sich behaupten kann, wirklich frei zu sein, bis wir alle Formen der Herrschaft beseitigt haben.

Um eine ökologische Welt zu erbauen, benötigen wir neue Weltanschauungen, Kulturen sowie starke Institutionen, um sie zu schützen. Wir dürfen jene Menschen, die bereits jetzt die Pflastersteine für diesen Pfad auslegen, nicht desavouieren.

Linkspartei und Organisation von Klassenbewusstsein – ein unzeitgemäßer Erklärungsversuch

Was ist eigentlich bei der Linken los?

Müsste Mensch Meier nicht annehmen, dass die linken Parteien erstarken, in Anbetracht der zunehmenden sozialen Spaltung in arm und reich, in progressiv und reaktionär – oder vielmehr einer Spaltung, die jüngst, mit breitem Zugriff auf soziale Medien und andauernden Befreiungskämpfen all jener, denen die Stimme verweigert wurde und wird, erst bewusst werden kann? Und nachdem progressive Bewegungen weltweit in den letzten Jahren unverhofft große Erfolge erzielen konnten?

Tatsächlich ist es, nach allem, was mensch sieht, keine schöne Zeit, um Parteilinke*r zu sein. Im Osten ist Die Linke stark, in Thüringen stellt sie mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten. Im Rest Deutschlands jedoch schwächelt sie weiterhin, scheiterte in Schleswig-Holstein im Mai 2017 an der Fünfprozenthürde, bei den Umfragen zur Bundestagswahl schwankte sie zwischen acht und elf Prozent als nach im August vorherrschenden Prognosen fünftstärkste Kraft mit wenig Koalitionsaussichten, seit Martin Schulz Rot-Rot-Grün de facto eine Absage erteilt hat. Letztlich schnitt sie mit 9,2 Prozent ab (69 Sitze im Bundestag), was zwar ihr zweitstärkstes Ergebnis seit der Fusion 2007 darstellt, aber immer noch einen Rückgang an Stimmen seit der letzten Wahl. Und Sahra Wagenknecht ist so unbeliebt wie vor ihr Oskar Lafontaine, was auch jetzt, nach der Wahl, zu erneuten Vorwürfen führt – denen sich auch die Linksjugend in großen Teilen anschließt – sie sei mit Konservativen und Rechten Kompromisse eingegangen, um die Partei damit „wählbarer“ zu machen – wenig überraschend mit entgegengesetztem Ergebnis.

Auf der einen Seite steht die potenzielle Wählerschaft, der das Programm nicht radikal genug ist, auf der anderen Seite sämtliche politischen Verhandlungspartner, denen es zu links ist.

 

Kompromiss und Antagonismus

„Die Mehrheit der Lohnabhängigen und Prekarisierten hofft, an der Seite der Mächtigen besser durch die Krise und die gegenwärtigen und zukünftigen Unsicherheiten zu kommen, als mit Widerstand und Solidarität. Dieser Umstand gehört zu den Folgen und Bedingungen für die relative Schwäche der gesamten Linken hierzulande“,

heißt es meines Erachtens sehr treffend in einem Positionspapier der Interventionistischen Linken.

(http://www.interventionistische-linke.org/die-bedingungen-unter-denen-wir-leben-und-kaempfen)

Dieses Verhältnis ist repräsentativ für die Schwierigkeit, die Arbeiter*innenklasse mittels einer Partei zu organisieren. Die relative Stärke der Linkspartei in den Neuen Bundesländern zeigt das Erbe dieser leninistischen Tradition deutlich an. Hinzu kommt der Habitus, der in der parlamentarischen Politik gelebt wird oder wenigstens unterstellt wird und von dem sich Teile der potenziellen Parteibasis so sehr abgeschreckt fühlen, dass sie vielleicht wählen, aber sicherlich nicht eintreten und ihre Bedürfnisse kundtun würden. Und ein allzu bemühter Versuch, diese Barrieren abzubauen, würde auch nur in wachsenden Populismus führen.

Woher kommt diese Abneigung zustande? In der Soziologie ist das Phänomen als Blackboxing bekannt (nach Bruno Latour). Blackboxing bedeutet im weitesten Sinne die Verinnerlichung und damit Verschleierung der Funktionsweisen sozialer Produktionsprozesse (Produktion von Waren – und Erzeugnissen wie Meinungen, sozialer Verträge, Wissenschaft, …) als Ergebnis fordistischer Arbeitsteilung, in der auch das Regieren und das Besitzen zu entlohnten Tätigkeiten werden.

Einfach ausgedrückt: Im Zweifel ist die einfache Arbeiterin doch eher geneigt, sich einer Gewerkschaft anzuschließen – zumal diese enger am Alltag arbeitet. Ich selbst halte nichts von Parlamentarismus, aber als Gewerkschafter bin ich in den gegebenen Verhältnissen angewiesen auf eine Partei, die mich und meine Genoss*innen schützt – verfassungsrechtlich, und unmittelbar vor Repression. Vernetzte und solidarische Kämpfe in allen Bereichen der Gesellschaft bleiben unbedingte Notwendigkeit für eine zeitgemäße Linke in Deutschland. Zweifellos braucht es also weiterhin linke Arbeit in den Parlamenten, um Fundamente zu legen. Aber sie ist eben nicht alles.

Der Versuch, den Systemwandel von innen – und nicht offen antagonistisch, wie im Falle kämpferischer Gewerkschaften – durchzuführen (und ein DGB oder eine ver.di, sofern sie an einem Wandel interessiert sind, muss als „innen“ betrachtet werden) führt schnell zu Verstrickungen – bezahlte Funktionäre und Gewerkschaftsarbeit als Hauptberuf sind eine einfache, aber undemokratische und gewiss nicht „linke“ Lösung. Parteien haben, ohne Ausnahme, dasselbe Problem.

 

Und was ist mit den anderen linken Parteien?

Als links sozialisierte Person ist mensch geneigt, andere Maßstäbe anzulegen, was das Infragekommen von Parteien als wählbar betrifft, als die selbsternannte Mitte sie anlegt. Und daher bereit, der DKP und der MLPD als linke Parteien wenigstens die Chance zu geben, ihr Programm zu lesen.

Die DKP hat nun allerdings einen eher fraglichen Ruf, in letzter Zeit werden immer wieder Rufe nach einer Vereinigung mit der PdL (wie Die Linke von DKP-Anhängern noch immer gerne genannt wird) laut, die beide Seiten belächeln. Die DKP steht im Ruf, traditionalistisch bis ins Mark zu sein – kein gutes Aushängeschild für eine Linke, die immer noch den Vorwurf zu hören bekommt, sich als SED-Nachfolgepartei zu begreifen (eine Halbwahrheit: es handelt sich um die Fusion einer SED-Nachfolgepartei, der PDS, und eines Zusammenschlusses von enttäuschten SPD-Dissident*innen und Gewerkschafter*innen, der WASG).

Was die MLPD anbetrifft, ist sie immer durch die erstaunliche Inkonsequenz aufgefallen, alles in ihr Programm aufzunehmen, was irgendwie links klingt – ohne dabei auf Stimmigkeit zu achten. Einen Gutteil ihrer potenziellen Wählerschaft wird sich dieses Jahr durch die Solidarisierung mit pro-Palästina-Gruppen eingebüßt haben – die als Listenkandidaten fungieren. Die MLPD macht über die letzten Jahre hinweg zunehmend den Eindruck, ein Sammelbecken für alle Linken zu sein, die sonst niemand haben will.

Früher empfahl sie mir der Wahlomat mit einer gewissen Voraussehbarkeit zu jeder Wahl; ich war damals zwar sozialrevolutionär eingestellt, aber wertekonservativ bis ins Mark. Auch das hatte seine Gründe – bis dahin war mein politischer Werdegang im Wesentlichen ein Potpourri an Personen gewesen, denen ich gerne ins Gesicht gesagt hätte „Ihr seid der Grund, dass niemand Linke mag“.

Die Diversität der linken Bewegung ist nach wie vor ihre größte Stärke und ihre größte Schwäche zugleich; Die Linke sucht ihre Position zwischen einem Reformismus, wie man ihn vor hundert Jahren noch von Sozialdemokraten erwarten durfte (und wie Gregor Gysi ihn nach wie vor verkörpert, der sich jedoch überwiegend in die Europapolitik abgesetzt hat und, wie auf dem letzten Parteitag, bloß noch gelegentlich in die deutsche Politik zurückkehrt, um Genoss*innen den Kopf zu waschen) einer sozialistischen Tradition und einem tabuisierten antikapitalistisch-sozialrevolutionären Ideal – einem, das sie zwar nicht fetischisiert und zur Selbstdarstellung nutzt wie die MLPD, das gerade in der Linksjugend jedoch subkutan spürbar ist.

Und das ist keine einfache Aufgabe.